Karin Coch, "Ein spannendes Vermächtnis"
Aufsatz zum 100. Geburtstag der großen Meisterin
"Unser Ziel ist, den Menschen in die Lage zu versetzen, sich auf die Wirklichkeit des
Augenblicks einzustellen." Diesen Satz prägte Gerda Alexander, die Begründerin der Eutoniepädagogik und
Eutonietherapie. Sich einstellen auf die Wirklichkeit des Augenblicks erfordert Klarheit für die eigene Identität, eine entwickelte
Wahrnehmungsfähigkeit, gutes Bewusstsein für Grenzen, eine hohe soziale Kompetenz und eine große Flexibilität und
Reaktionsfähigkeit. Die damit verbundene Tonusflexibilität befähigt den Menschen den Anforderungen des Alltagsbesser zu genügen. Sich auf die Wirklichkeit des Augenblicks einzustellen, bedeutet keineswegs
sich bedenkenlos allen Situationen anzupassen, sondern verlangt ein hohes Maß an
Verantwortungsbewusstsein für sich und andere.
Alle Fotos auf dieser Seite: Foreningen af Eutonipaedagoger, DK
Gerda Alexanders persönliche Stärke war ihre Fähigkeit zur
Tonusadaption. Sie konnte sich
in andere Menschen einfühlen, deren körperlich-seelische Spannung und Gestimmtheit
nachempfinden und darauf angemessen reagieren. Die Entwicklung der Eutonie ist
Gerda Alexanders Lebenswerk. Eutonie GA löst Fehlspannungen, befähigt zum gesunden
körperlich-seelischen Ausdruck und fördert die
Entwicklung der Persönlichkeit durch
körperliches Erleben. Sie hat eine große soziale und emanzipatorische Wirkung.
Gerda Alexander wäre am 15.2. 2008 100 Jahre alt geworden. Sie kam aus einer künstlerischen,
musikalischen Familie. Ihre Eltern haben ihre künstlerischen Neigungen sehr früh unterstützt.
Sie wurde in den zwanziger Jahren von Otto Blensdorf ausgebildet, der als Rhythmik- und
Gymnastiklehrer zahlreiche Kinder-, Spiel- und Tanzlieder entwickelte und aus der Schweizer
Jaques Dalcroze- Schule kam. Schon als Kind ging die kleine Gerda mit Begeisterung
"zu dem Herrn Blensdorf", der ihr musisches Talent förderte. Später arbeitete sie eng mit
Otto Blensdorf und seiner Tochter Charlotte Blensdorf - Mac Jannet zusammen
(weitere Informationen zu O. Blensdorfs Lebenswerk im
Internet).
1959 organisierte sie den ersten "Internationaler(n) Kongress für
Entspannung und natürliche Bewegung" in Kopenhagen, an dem u.a. auch Moshe Feldenkrais, sowie die Tanzpädagogin Rosalia Chladek und viele Ärzte und Psychologen aus den skandinavischen
Ländern
teilnahmen. Auf dem Kongress stellte sie der damaligen Fachwelt ihre Methode vor, und nannte sie
Eutonie.
Sie hat im Laufe ihres Lebens
mit Asthmatikern,
Spastikern,
Querschnittsgelähmten, Musikern,
Schauspielern, Tänzern, mit Menschen, die an Schlaflosigkeit, an
Phantomschmerzen oder mit Menschen, die an einem Tick litten,
gearbeitet. Sie erlangte internationale Anerkennung von Pädagogen,
Medizinern, Psychologen und Psychiatern. Auch C. G. Jung interessierte sich für ihre Arbeit und suchte das Gespräch
mit
ihr.
Gerda Alexander war bis ins hohe Alter forschend
und lehrend tätig. Neben ihrer Ausbildungstätigkeit in Kopenhagen reiste sie in europäische Länder, nach Israel und nach Amerika, um Eutoniekurse zu geben und ihre Arbeit bekannt zu
machen.
Auf dem Foto Gerda Alexander (li) mit Otto Blensdorf und seiner Tochter Charlotte Blensdorf-Mac Jannet.
Als Rhythmik- und Gymnastiklehrerin fing Gerda Alexander in der Zeit der Reformpädagogik an, Körperbewusstsein, Rhythmik und Bewegung zu vermitteln. In ihrer Arbeit propagierte sie die Eigenverantwortlichkeit für den Körper, die Gesundheit und das soziale Miteinander. Schon während ihrer Ausbildung war sie an der freien Schule des Reformpädagogen Prof. Peter Petersen der Universität Jena tätig und ließ sich von seinen pädagogischen Ideen inspirieren. Wie sie in einem Interview sagte: "wurde anstelle der äußeren Disziplin der alten Schule die innere Disziplin durch die Rhythmik bei den Schülern entwickelt. Es gab wohl selten eine Institution, die so auf jeden einzelnen eingegangen ist und wo immer der Mensch im Zentrum stand." 1) Als sie Ende der 1920iger Jahre in Dänemark am Fröbelseminar unterrichte, sah sie, dass Peter Petersens Ideen im großen Rahmen in privaten und öffentlichen Schulen in Dänemark bereits realisiert wurden.
In ihrer Lehrtätigkeit stellte Gerda
Alexander fest, dass SchülerInnen einer bestimmten Tanzschule
häufig nur den Stil ihrer jeweiligen Meister kopierten. Ihr war daran gelegen, die körperliche
Individualität ihrer SchülerInnen im Tanz zum Ausdruck zu bringen. Sie fing deshalb an,
die individuellen
Eigenheiten für den körperlichen Ausdruck zu entdecken und zu erforschen.
Grundlage dafür war die Entwicklung der körperlichen Wahrnehmungsfähigkeit, des
Körperbewusstseins und die körperlich-geistige und seelische Einheit des Menschen. Sie wurde zu einer der Pionierinnen der Körperarbeit, die Ausdruck und Bewegung suchte. Nach dem 1. Weltkrieg
entstanden vielfältige neue Methoden der freien Bewegung, der Ausdruckstanz und die ganzheitliche Körperbildung. Seit Ende der
1920iger Jahre unterrichtete sie in Kopenhagen. Obwohl sie 1933 einen Ruf an das Schauspielhaus Berlin als Regieassistentin hatte, entschied sie sich, in Dänemark zu bleiben. Sie ahnte, dass sie
im faschistischen Deutschland mit ihrer Methode der individuellen Persönlichkeitsentwicklung keine Chance haben würde. Sie gründete 1940 in Kopenhagen ihre internationale Ausbildungsstätte, die
vom dänischen Staat als Fachhochschule anerkannt war und auch später zum Empfang von staatlichen Stipendien berechtigte. Dort hatte sie ein internationales Publikum und bildete zunächst
Rhythmik- und GymnastiklehrerInnen auf der Grundlage ihrer neuen Entspannungstechnik und seit den 1950iger Jahren EutoniepädagoInnen aus, die in Deutschland, der Schweiz, Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Dänemark ( www.eutoni.dk ), Schweden, Norwegen, Island, Italien, Israel, Südamerika, den USA und Kanada als EutoniepädagogInnen tätig
wurden.
Sie führte ein geniales, künstlerisches Leben und hat in ihrer Arbeit Phänomene entdeckt, die später durch die neurologische Forschung bestätigt wurden. Mit der Entwicklung der Eutonie GA war sie ihrer Zeit weit voraus. Ihre Methode hat im Laufe der Jahre andere Körpermethoden und -therapien, Tanz- und Rhythmikausbildungen beeinflusst.
Der Arzt Prof. Dr. Helmut Milz, hat sich 1983 im Rahmen seiner Forschungsarbeit durch eigene Erfahrungen von der Wirksamkeit der Eutonie überzeugen konnte, schrieb: "Sie (die Eutonie) erweist sich als für ein breites Spektrum von psychosomatischen Erkrankungen bestens geeignet. Spezifisch sind hier depressive Syndrome, Angst- und Panikerkrankungen, chronische Schmerzzustände, Tinnitus, sowie die Schulung eines bewussteren Körperbildes bei Patienten mit schweren chronischen Essstörungen wie Anorexia nervosa und Bulimia nervosa zu nennen. Aus meiner langjährigen Tätigkeit als Arzt und als Berater der Weltgesundheitsorganisation in Fragen der Gesundheitsförderung kann ich die Methode der Eutonie nach Gerda Alexander vorbehaltlos als wichtige Ergänzung des Behandlungsspektrums im Bereich von körper- und bewegungstherapeutischen Maßnahmen empfehlen. Sie hat nach meiner Kenntnis die solideste Ausbildungsgrundlage von allen mir bekannten körpertherapeutischen Verfahren, achtet auf eine gründliche Supervision der Auszubildenden nach ihrem theoretisch-praktischen Training und hat einen hohen ethischen Standard." 2004 nannte Prof. Milz in einer Ansprache zum 30jährigen Bestehen der flämischen Eutonie-Schule das Leben und Wirken Gerda Alexanders "ein spannendes Vermächtnis".
Ihr zu Ehren gab es am 1.11.08 in Wuppertal ein Symposium: "Eutonie im Wandel, beweglich sein - Grenzen überschreiten". Wuppertal ist Gerda Alexanders Geburtsstadt und die Stadt, in der sie - nachdem sie ihre Kopenhagener Ausbildungsstätte 1987 aufgegeben hatte - die letzten Jahre ihres Lebens verbrachte.
Gerda Alexander als Gassenjunge
Gerda Alexander in jungen Jahren
Gerda Alexander in jungen Jahren
links: Gerda Alexander mit 85 Jahren in Straßburg
rechts: Gerda Alexander in Kannada bei der Arbeit mit einer Geigerin